28.09.1977Bericht aus Kalkar
Polizeilager im Garten eines Hauses an der Rheinstr. zwischen Kalkar und Hoennepel
Schon Freitag Nacht setzten die Übergriffe, Schikanen und Kontrollen überall da ein, wo sich AKW-Gegener versammelten, um gemeinsam mit Bus oder Pkw nach Kalkar zu fahren. So z. B. in Köln, Münster, Hamburg usw. Als wir in Köln auf die Autobahn in Richtung Krefeld fuhren, tauchten nach wenigen hundert Metern die ersten Polizeistreifen auf. Bis Kalkar wiederholte sich das dutzende Male, nahezu auf jedem Parkplatz waren massive Polizeikontrollen aufgebaut.
In Neuß riegelte die Polizei die Autobahnauffahrt in Richtung Norden vollständig ab. Nahezu jedes Auto wurde kontrolliert. Lastwagenfahrer wurden mit vorgehaltener Maschinenpistole zum Anhalten gezwungen. Sie protestierten empört, wei1 sie durch die schikanösen Kontrollen mit Lieferverzug rechnen mußten. Mitglieder unserer Redaktion, die auf dem Weg zu der Polizeisperre waren, um dort zu fotografieren, wurden von einer Polizeistreife aufgehalten. Ihre Forderung nach ungehinderter Pressearbeit quittierte ein gewisser Polizeihauptkammissar Bredtmann mit der frechen Bemerkung: "Wir wollen nur wissen, wer für uns und wer gegen uns arbeitet."
Am Ende der Autobahn in Moers die nächste große Kontrolle. Hier waren die uniformierten Polizei- und Bundesgrenzschutztruppen durch Zivile massiv verstärkt worden. Es handelte sich um Schüler der Polizeischule in Hiltrup bei Münster, die "Einsatzerfahrungen" machen sollten. Bei den dort durchgeführten Beschlagnahmungen wurde klar, was von den "Waffen" zu halten ist, mit denen AKW-Gegner nach Kalkar fuhren und die die bürgerliche Presse schon seit Tagen in den schwärzesten Farben ausgemalt hatte. Dünne, einen Meter "lange" Bambusstöcke, Benzinkanister, Wasserbehälter, Wagenheber und andere Gegenstände wurden von Maschinenpistolenbewaffneten Polizisten eingesammelt.
Vor Xanten war die B 57 hermetisch abgeriegelt. Doch die Polizei erreichte auch dadurch nicht ihr Ziel, alle, die nach Kalkar wol1ten und dort vorbeikamen, zu durchsuchen. AKW-Gegner fuhren einfach hinter Einheimischen her, die auch keine Lust hatten, sich den Schikanen zu unterziehen, und die Polizeisperre auf Nebenstraßen umgingen.
Ein ROTE FAHNE-Redakteur schildert, wie er die Sperre bei Marienbaum, nicht weit vor Kalkar, umging: "Wie fahren wir am beßten weiter nach Kalkar, fragten wir, als wir die die letzte Sperre vermeiden wollten und deshalb von der Bundesstraße 57 abgezweigt waren. Ein älterer Mann beschrieb uns bereitwillig den kürzesten Weg und dann augenzwinkernd einen etwas längeren über Feldwege. Seine Bcfürchtung traf jedoch zu, daß man auch dabei noch auf Polizei stößt. Rund drei Kilometer weiter war tatsächlich die schmale Teerstraße durch die Wiesen von einem wahren Heerlager von feldmarschmäßig gerüsteter Polizei gesperrt. Nach einer halbstündigen Durchsuchung konnten wir weiterfahren. Als wir nach einiger Zeit anhielten, weil wir nicht mehr weiter wußten und fragten, beschrieb uns ein junger Mann die Weiterfahrt. Auf unsere Frage, ob es vielleicht noch einen Weg ohne Kontrolle gibt, meinte er etwas ungehalten: "So einen Weg beschreibe ich Ihnen doch gerade." Dieses kleine Erlebnis bei der Anfahrt im Einsatzgebiet, wo laut bürgerlicher Presse die Bevölkerung vor dem 24.9. zitterte, widerlegt die Lügen über das Einverständnis der Einheimischen mit dem Schnellen Brüter und den Polizeimaßnahmen."
Bezeichnenderweise wurden Busse mit DKP-Leuten an den Sperren und bei den Durchsuchungen bevorzugt behandelt. Teilweise brauchten sie nur ihre DKP-Flugblätter vorzuzeigen, und schon wurden sie ohne Kontrolle durchgelassen.
Trotz der umfassenden Sperr und Durchsuchungsmanöver des staatlichen Gewaltapparates sammelten sich im Laufe des Vormittags immer mehr Menschen auf dem schönen alten Marktplatz in Kalkar. Angesichts der üblen Schikanen und dem empörenden Vorgehen des Bundesgrenzschutzes an den Grenzübergängen wurden besonders die eintreffenden AKW-Gegner aus Holland, Belgien, Frankreich und Dänemark mit großer Begeisterung von den bereits Anwesenden begrüßt.
Überall auf dem Marktplatz drehten sich die Gespräche um den Polizeiterror, überall wurde Empörung laut. "Die Hamburger sind insgesamt neunmal gefilzt worden", rief jemand über den Platz. Geparkte Autos waren von der Polizei aufgebrochen worden, weil sie darin "Waffen" vermutet hatte. Einzelne Gegenstände waren dabei, gegen "Quittung", von den Polizisten entwendet worden.
Ein Bewohner von Kalkar erzählte: "Aufgrund der Kontrollen bin ich erst heute morgen um 5 Uhr nach Hause gekommen. Ich war auf einer Silberhochzeit: Anf einer Strecke von drei Kilometern wurde ich dreimal angehalten und mein Wagen kontrolliert."
Ein Apotheker trat den Presselügen entgegen. Er war empört darüber, daß die Presse schrieb, die Bevölkerung in Kalkar igle sich ein, man fürchte die Demonstration, nagle alles zu, usw. usf. Er sagte, daß der Juwelier und der Antiquitätenhändler die.einzigen sind, die zu einer solchen Maßnahme gegriffen haben. Er stellte wei ter fest, daß sich in den letzten Tagen angesichts der Übergriffe von Polizei und Bundesgrenzschutz die Anti-Demonstrations-Haltung bei vielen Kalkarer Geschäftsleuten in eine Anti-Polizei-Haltung gewandelt hat. Das unglaublich freche Auftreten der Polizei der Bevölkerung gegenüber hat viel dazu beigetragen.
Ein Lehrer schi1derte die Situation in Niedermörmter, einem kleinen Dorf in der Nähe. Auch dort fiel in den letzten Tagen der Unterricht aus. In der Schule wurden 400 Polizisten aus Unna einquartiert. Sie beha.ndelten die Bevölkerung arrogant, kontrollierten die Bewohner des Dorfes, beschlagnahmten Scheunen, um dort weitere Polizisten einzuquartieren. Überall riegelten sie die Wege ab, legten Verhaue aus! NATO-Draht an und stellten Hamburger Reiter auf. Selbst die Bewohner des Dorfes wurden nicht, mehr durchgelassen und mußten Umwege machen. Immer wieder wurde durchsucht. Der Sohn des Lehrers konnte nicht zur Fahrprüfung, weil er einfach nicht aus dem Dorf rauskam.
"Wie Dreck haben uns die Polizisten behandelt. Sie benehmen sich, als wenn sie die Macht im Staat übernommen hätten", macht er seiner Empörung Luft.
Auch unter den Bewohnern aus Kalkar, die auf dem Marktplatz mit den bereits Versammelten und den Ankommenden diskutieren, ist keiner, ,der sich für den "Schnellen Brüter" stark macht. Ein Rentner, etwa 60 Jahre alt:
"Wenn wirklich hier das Kraftwerk in Betrieb kommt und es wird dort eine Bombe reingeworfen - ob die jetzt hier eine Atombombe werfen oder sie schmeißen den "Schnellen Brüter" mit einer Sprengbpmbe kaputt - für uns ist das gleich, dann gehen wir sowieso alle drauf. Vor fünf Jahren, als der Bau begonnen wurde, hat man uns überhaupt nicht erzählt, was dort eigentlich geplant ist. Die da oben an der Regierung sitzen, die haben gut reden. Ein Atombunker z. B. für die Bevölkerung von Kalkar, das wäre bestimmt nicht teurer, als die Sicherheitsvorkehrungen für den ,Brüter'. Aber es ist doch so, die großen Herren, für die ist Schutz da; die haben Bunker in der Eifel. Aber für den kleinen Mann, da ist nichts. Und wer im letzten Krieg gewesen ist, der kann sich ein Bild davon machen, was da auf uns zukommt."
Ein älterer Ma.nn trat der Lüge entgegen, daß die Lichter ausgehen, wenn keine Atomkraftwerke mehr gebaut werden:
"Ich kenn mich zufällig in Voerde aus, dort ist ein Kohlekraftwerk. Ein Bekannter, der dort arbeitet, sagte mir, daß dort nur mit halber Kraft gearbeitet wird. Als ich ihn nach den Gründen fragte;. sagte er, daß man dort nicht weiß, wohin mit dem Strom. Also einerseits können sie nur mit halber Kraft arbeiten, weil sie Stromüberschuß haben. Auf der anderen Seite wollen sie Kernkraftwerke bauen, die für die Bevölkerung eine Gefährdung sind."
Auf der Sitzung der, Vertrauensleute der Bürgerinitiativen am frühem Nachmittag wurden witere Übergriffe von Poizei und Bndesgrezschutz bekannt. Ein holländischer Vertrauensmann berichtet, daß insgesamt 50 holländische Busse festgehalten worden sind. Anschließend gab die Demonstrationsleitung bekannt, daß um 16 Uhr die große Demonstration aller versammelten AKW-Gegner zur Wiese des Bauer Maas gegenüber dem Bauplatz des "Schnellen Brüters" beginnen soll.
Nach der Vertrauensleutesitzung schilderte ein holländischer Journalist empört die Brutalität bei den Busüberprüfungen auf der B 57 vor Kalkar. Die Polizisten schreckten dort vor Prügeleien, Schlägen und Tritten in die Geschlechtsorgane nicht zurück. Als der Journalist sich dort weigerte, nach wenigen Aufnahmen das Fotografieren einzustellen, wurde er von Polizisten weggeprügelt.
An der Straße von Kalkar nach Hoennepel, am Ortsausgang von Kalkar, waren Würstchenbuden und andere Verkaufsstände aufgebaut, die von Mittag an regen Zuspruch hatten. In Richtung Hoennepel waren die Seitenstraßen, die von der Hauptstraße in Rcihtung zum Baiuplatz des "Schnellen Brüters" führen, von Polizei und Bundesgrenzschutz abgeriegelt. Häuser, die direkt daneben liegen, waren rücksichtslos in die Absperrungen miteinbezogen worden. NATÍ'O-Draht umsäumte die Vorgärten; auf den Gartenwegen standen Schützenpanzer der Polizei. Immer wieder sammelten sich vor diesen Häusern große Diskussionsgruppen. Ein alter Bauer, hinter dessen Haus sich eine Hunndertschaft Polizei mit Panzer- und Mannschaftswagen breitgemacht hatte, wurde nicht müde, mit Bewohnern aus Kalkar, die sich die Polizeisperren ansahen, und mit Demonstranten zu sprechen. Er fand kein Wort für den "Schnellen Brüter"; aber viele dagegen. "Die Polizei habe ich nicbt gerufen", sagte er.
Auf dem Weg zum Bauplatz
Sehließlich setzte sich die Demonstration der 50.000 in Bewegung. An der Spitze wurde ein großes Transparent getragen, in den ersten Reihen marschierte die demokratisch gewählte Demonstrationsleitung. Selbst als die Spitze des Zuges den Dorfeingang von Hoennepel erreichte, hatte das Ende Kalkar immer noch nicht verlassen.
Hundert Meter vor Hoennepel sollte sich entscheiden, ob die 50.000 ihr Recht auf eine Kundgebung direkt ann Bauplatz durchsetzen konnten. Bis hier hatten Hirsch und die Polizeiführung der Demonstration "Legalität" zugestehen müssen. Schon bevor die Spitze diesen Punkt erreichte, wurde mit Megaphonansagen aus tieffliegenden Hubschraubern versucht, die Demonstranten einzuschüchtern und sie so aufzuhalten. Die Demonstration kam an diesem Punkt für zehn Minuten zum Stocken. Doch nach einer kurzen Beratung gab die Demonstrationsleitung ihre Entscheidung bekannt, die den Willen der 50.000 aus drückte: "Wir werden jetzt ruhig und langsam auf diesem Weg weiter vorgehen, nach links." Und das war der Weg zum Bauplatz!
Die paar hundert DKP-Anhänger, die nach rechts gingen, isolierten sich hoffnungslos. In Hoennepel selbst standen viele Dorf bewohner an der Straße, freuten sich über die große Menge der Demonstranten und äußerten sich anerkennend über die disziplinierte Demonstration. Ein RF-Redakteur berichtete:
"Während die Demonstration also schon ,illegal' durch Hoennepel zog, hätte sich doch endlich ,die Angst vor den Demonstranten bei der Bevölkerung zeigen müssen. Das gerade Gegenteil war der Fall. Die Bewohner, denen wochenlang ihre ´Gefährung´ eingehämmert worden war, standen vor den Häusern, Zurufe aus der Demonstration wurden lachend beantwortet. Ich sprach mit einer Bauersfrau, die mit ihrem kleinen Kind auf dem Arm inmitten der ganzen Familie und Nachbarn stand. Sie ließ heinen Zweifel an ihrer Sympathie für die Demonstration: ,Wir waren immer für die Demonstration; die sollen zur Wiese gehen, das muß sein . . . das geht ja völlig in Ordnung.'. Und dann zeigte sie auf die mit Helmen und Schutztüchern bewehrten Ordnerketten: ,Sehen Sie sich diese strammen Jungs an, die sorgen für Ordnung. Wir (das betonte sie) brauchen die Polizei nicht'. Nach ein paar Minuten verabschiedete ich mich und fragte sie, .ob ich ein Foto von ihr machen dürfte. Sie lachte und sagte: ,Ja, von mir aus. Ich stehe zu dem, was ich gesagt habe!'"
Schließlich erreichte die Spitze des Zuges das Feld des Bauern Maas. Gegenüber hatten die Bürgerkriegstruppen den "Brüter" in eine schwerbewachte Festung verwandelt. Doch die Demonstranten ließen sich nicht provozieren. Sie hatten mutig und kämpferisch ihr Ziel, die Kundgebung am Bauplatz, erreicht. Und diese Kundge bung war schon lange beendet; als immer noch Demonstranten auf den Platz strömten.
1973 wurde mit dem Bau des Prototypenreaktors SNR 300 (Schneller Natriumgekühlter Reaktor mit einer Leistung von 300 MWe) in Kalkar am Niederrhein (Nordrhein-Westfalen) begonnen. Diese Anlage wurde später auch KKW Kalkar genannt. 1985 wurde der Bau fertiggestellt, daraufhin jedoch durch die SPD-regierte und inzwischen Kernkraft-feindlich gesonnene Landesregierung die Betriebsgenehmigung nicht erteilt.
Dies geschah zum einen durch die damals geführte Kohlevorrangpolitik und den immer noch tief sitzenden Schock, den die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl auslöste, zum anderen war das Projekt bereits im Vorfeld stark behindert worden: zahlreiche Prozesse, zwei davon vor dem Bundesverfassungsgericht, eine vierjährige Bauunterbrechung erwirkt durch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, zahlreiche technische Auflagen, die über den internationalen Stand der Technik hinaus gingen (Flugzeugabsturz- und Erdbebensicherung, Einsatz einer Bodenkühleinrichtung). Dies führte zu enormen Kostenerhöhungen von geplanten 0,85 Mrd. Euro auf 3,5 Mrd. Euro, welche schließlich wieder als Argument der Gegner geeignet waren, um für den Ausstieg aus der Brütertechnologie zu stimmen.
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1991 wurde das KKW Kalkar stillgelegt. Zusammen mit diesem Projektabbruch nahm man ebenfalls die KNK-II außer Betrieb.
1995 wurde die fertiggestellte Anlage samt der Gebäude für 0,0025 Mrd. Euro, also 2,5 Mio. Euro an den holländischen Unternehmer Hennie van der Most verkauft, der dort eine Hotel- und Freizeitanlage mit 970 Betten unter dem Namen Kernwasser-Wunderland errichtete (www.kernwasser-wunderland.de). Ihm selbst wurde vertraglich untersagt, die Kaufsumme öffentlich zu nennen...
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